Warum wir wieder lernen müssen, Prozesse zu gestalten
Ein Plädoyer für mehr Beteiligung und weniger Schnellschüsse
Von Jürg Kraft
In unserer schnelllebigen Zeit scheint der Wert von etwas in Vergessenheit zu geraten, das unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält: der Prozess.
Damit meine ich nicht nur Abläufe oder Bürokratie – sondern die Art und Weise, wie wir gemeinsam Entscheidungen treffen, Verantwortung teilen und Veränderungen gestalten. Prozesse sind der Boden, auf dem Vertrauen wachsen kann. Und genau dieses Vertrauen gerät vielerorts unter Druck – in Politik, Verwaltung, Organisationen, Schulen und auch in der Kirche.
Vertrauen entsteht dabei nicht zufällig. Es hat Voraussetzungen. Denn Gemeinwesen gründen letztlich auf Vertrauen – und dieses Vertrauen setzt ein gewisses Mass an Identifikation mit den Werten und Anliegen der jeweiligen politischen, verwaltungstechnischen, organisatorischen oder kirchlichen Strukturen voraus. Ohne dieses Sich-Wiederfinden in gemeinsamen Zielen und Anliegen bleibt Vertrauen fragil. Gute Prozesse müssen daher auch Raum schaffen für Identifikation – und so Vertrauen überhaupt erst ermöglichen.
Ich arbeite beruflich mit Prozessen. Und ich beobachte immer öfter: Sie gelten als mühsam, langsam oder hinderlich. Doch in Wirklichkeit zeigt sich das Gegenteil – wenn Prozesse bewusst gestaltet werden.
Denn gute Prozesse bedeuten:
- Menschen ernsthaft einbeziehen,
- unterschiedliche Meinungen sichtbar machen,
- Interessen aushandeln,
- und gemeinsam tragfähige Lösungen entwickeln.
- Und: Sie schaffen klare Spielregeln – Rahmenbedingungen, die Orientierung geben und Beteiligung sichern.
Das ist nicht bequem. Aber es ist der Kern einer lebendigen Demokratie. Demokratie ist keine Abkürzung, sondern ein Weg. Und dieser Weg braucht Struktur, Geduld und die Bereitschaft, Komplexität auszuhalten – gerade in schwierigen Zeiten.
Das zeigt sich besonders auf Gemeindeebene, wo politische Entscheidungen ganz nah bei den Menschen sind. Wenn hier Beteiligung gelingt, entsteht mehr als nur Zustimmung. Es entsteht das, was heute besonders kostbar geworden ist: Vertrauen.
Beteiligung ist kein Luxus. Sie macht Entscheidungen besser – und sie macht sie tragfähiger, weil sie gemeinsam erarbeitet wurden. Prozesse, die das ermöglichen, sind keine Spielerei für Idealistinnen und Idealisten. Sie sind ein Fundament für Zusammenhalt.
Es zeigt sich immer deutlicher:
In einer Zeit voller Unsicherheiten, Spaltungen und hektischer Entscheidungen brauchen wir nicht weniger Beteiligung, sondern echtere und tiefere Beteiligung. Nicht einfachere Antworten, sondern gemeinsam getragene Lösungen. Und nicht weniger Prozess, sondern bessere Prozesse.
Mein Beitrag ist es, Räume zu gestalten, in denen genau das möglich wird: Räume, in denen Menschen gehört werden – und gemeinsam handeln können. Denn Demokratie ist mehr als ein Ergebnis. Sie ist das Ringen um den Weg dorthin. Und genau diesen Weg müssen wir wieder ernst nehmen.
Anmerkung: Der Autor begleitet Organisationen, politische Gremien, Verwaltungen, Schulen und kirchliche Institutionen bei der Gestaltung von Beteiligungs- und Veränderungsprozessen. Sein Fokus liegt auf dem bewussten Umgang mit Unterschiedlichkeit, Macht und Verantwortung.